Vassien
Einer unserer Jungendfreunde wurde von uns “Trämli” (Strassenbahn) genannt, weil er oft glaubte, er sei eine Tram. In diesen Momenten ging er nicht, sondern “fuhr” – mit kleinen Schritten versuchte er sich möglichst gleichmässig zu bewegen, beschleunigte dabei ruckweise mit einer imaginären Kurbel und machte Elektromotorengeräusche. Er blieb immer in den Gleisen und hielt nur an Stationen an. Manchmal lief wer vor ihm her, er kingelte dann schrill und stiess Warnrufe aus. “Kannste nicht ausweichen?” rief er dann wohl. “Ich schon, aber du nicht!” erwiderte der Störenfried dann.Wenn er anders gestimmt war, sann Trämli über Vassien nach. Von diesem Land, das nur in seiner Phantasie existierte, zeichnete er eine genaue Landkarte mit Städten, Dörfern, Weilern, Gebirgen, Wäldern, Strassen, Flüssen und den kleinsten Details. Er selbst hielt sich verschiedentlich in einer Eckkneipe der Hauptstadt Vassopol auf. Das Lokal hiess “Zur Frage” (Na Pitanje) und stammte noch aus der Zeit, als Vassien ein Teil des bordurischen Imperiums gewesen war. Nach dem Krimkrieg war selbiges implodiert, die gesamte Einrichtung des Cafés war jedoch aus diesen goldenen Epochen übernommen: die niedrigen Hocker, die achteckigen, fein ziselierten, kurzbeinigen Holztische, der in Messingbleche gepunzte Hirsch mit dem mächtigen Geweih (“Achzehnenender” würde der Waidmann fachmännisch sagen)….Vassien, obwohl eine Fast-Insel, grenzte im Osten an Russland. Das alleine war schon eine Zumutung, dachte Trämli, zumal weite Teile Russlands von russischen Truppen besetzt waren. In guter Obama-Manier wollte Trämli deswegen demnächst Sanktionen verhängen.Der russische Geheimdienstchef war noch nie in Vassopol gewesen, welche ungeheure Provokation würde ein solcher Besuch darstellen! Wenn hingegen CIA-Chef Brennan vor Ort mit hochgestellten Vassiern sprach, krähte kein Hahn danach……Gleich um die Ecke war die römisch-katholische Kirche (in Vassien waren die meisten Religionen und Konfessionen vertreten – sogar die Atheisten hatten in Vassopol ihren eigenen Raum, in dem nur Lubunya gesprochen wurde). Trämli beobachtete von seinem Stammplatz aus, wie der Pfarrer mühselig den Turm bestieg -wäre das nicht des Küsters Aufgabe? – und bei dem Versuch, die Zeiger der riesigen Turmuhr für die Sommerzeit umzustellen, abstürzte und reglos auf dem Pflaster liegenblieb. Das Leben und Treiben der Stadt ging indes ungeachtet dieses Ereignisses weiter seinen Gang. Trämli kannte alle Ecken der Agglomeration und des Landes, er schuf die Bewohner, zeichnete ihre Gesichter; er fällte das Urteil über ihren Charakter, über ihr Temperament und ob ihre Unterwäsche schmutzig war. Über das Schicksal der Leute entschied er ganz allein und fühlte sich dabei einem Schöpfer gleich. Manchmal war ihm das auch eine Last. “Muss ich alles allein entscheiden?” dachte er dann.